Eigentlich sind sie in ihren Autos unterwegs und bauen an schönen Orten nachts das Dachzelt auf: Dachzeltnomaden kommen, um nicht zu bleiben. Bei den Dachzeltnomaden, die seit Monaten in den Hochwassergebieten im Hilfeeinsatz sind, ist es anders. Sie bleiben. So lange, wie sie gebraucht werden. Ihr Basislager haben sie in Rupperath oberhalb von Bad Münstereifel gefunden.
„Negativ!“ Wer zu den Dachzeltnomaden (DZN) in der Alten Schule von Rupperath will, der muss sich erst mal auf Corona testen lassen. Thilo Vogel und Dennis Brandt, Geschäftsführer und Gründer der gemeinnützigen Hilfsorganisation Dachzeltnomaden GmbHs koordinieren mit den Kumpels von Rupperath aus Hilfsangebote für die Hochwasseropfer. Da wäre ein Corona-Ausbruch unter den Helferinnen und Helfern das Schlimmste, was passieren kann.
Wenige Tage nach der Hochwasserkatastrophe vom 14. und 15. Juli hatten die beiden und einige Freunde beschlossen mit ersten gesammelten Hilfsgeldern Gutes zu tun. Nur was, und wo? „Wir haben uns das dann vor Ort angeschaut. Wir hatten unsere Autos, die Zelte, Handys und gute Absichten. Das war’s. Wir waren zu siebt, und dachten, dass wir vielleicht sieben Tage mit anpacken würden“, so Thilo Vogel.

Daraus sind mehr als fünf Monate geworden und ein Ende ist noch nicht absehbar. Stattdessen sind die Dachzeltnomaden zu einer der bundesweit bekannten ehrenamtlichen Hilfsorganisationen für die Hochwasseropfer geworden, in einer Reihe mit Thomas Gräf aus Elsig (Gründer der Gruppe „Bauern helfen“), Markus Wipperfürth vom Niederrhein und anderen Helferteams.
Ihr Basislager haben die Dachzeltnomaden mit Unterstützung des Betreibervereins Alte Schule in Rupperath gefunden. Also wenige Autominuten entfernt vom Ahrtal wie auch von Bad Münstereifel, Orte, die wie Erftstadt-Blessem seit dem 14. und 15. Juli synonym für die Hochwasserkatastrophe 2021 im Westen Deutschlands geworden sind.
Hier, in der Sporthalle der Alten Schule von Rupperath, sitzen Thilo Vogel, 42, gebürtiger Norddeutscher, und Dennis Brandt, 28 Jahre alt und aus Düsseldorf, und trinken einen Kaffee. Es ist spät am Vormittag, die Räume sind leer. Nur in der Küche wird eifrig gekocht.
Dachzeltnomaden ist die Flexibilität wichtig – seit Mitte Juli haben sich eine ganze Reihe von ihnen entschieden auf länger an einem Ort zu bleiben.
Die Buddies grinsen. Nein, das hätten sie damals wirklich nie gedacht, dass es mittlerweile an die 2000 Freiwillige aus ganz Deutschland sind, die „mehr als 50.000 Mannstunden“ Hilfseinsatz geleistet haben, meint Thilo Vogel. Ob in Sinzig, Altenburg oder Müsch, ob in Iversheim, Wisskirchen, im Oleftal oder in Heimbach: Überall waren die von Rupperath aus per Shuttledienst an die Einsatzorte gebrachten Helfenden schon dabei.

Ob Altenpfleger, IT-ler, Arzt oder Handwerksmeister – es sind immer Dachzeltnomaden, die helfen, das ist dabei das Besondere. „Ihnen ist Flexibilität wichtig, eine Einstellung, die die Leute zu Dachzeltnomaden macht, auch wenn sie deshalb nicht alle einen PKW und ein Zelt dabeihaben“, erklärt Dennis Brandt. Mitmachen kann dann Jeder und Jede, egal, ob er oder sie bis dato nur einen Nagel in die Wand schlagen konnte. Dafür gibt es die Sicherheitseinweisung, Arbeitsschutz und die Unterstützung der Mithelfenden vor Ort. „Sonst jobbt man eben in der Küche, sorgt dafür, dass das Camp am Leben erhalten werden kann“, erklärt Thilo Vogel.
„Am Leben erhalten“ – das ist eine Formulierung, die wichtig ist, um die Arbeit der Dachzeltnomaden zu verstehen: Es soll etwas von Dauer sein, so lange anhaltend, wie die Menschen, die in einer Notlage sind, die Hilfe gebrauchen können. „Denn wir sind gekommen um zu bleiben, um da zu sein. So lange das nötig ist. Um den Betroffenen das Gefühl zu geben, dass wir sie nicht allein lassen, dass wir sie nicht vergessen“, betont Vogel.
Und wer hilft den Helfenden das vor Ort Erlebte zu verarbeiten? Dafür gibt es den abendlichen „Stuhlkreis“ in der Alten Schule in Rupperath.

Bis zu zehn Teams, mehr als 100 Helferinnen und Helfer, sind so täglich in den ersten Monaten nach der Juliflut an den Einsatzadressen gewesen. Und vier Teams sind es täglich immer noch. Nach wie vor sind um die 40 Helfer und Helferinnen im Auftrag der Dachzeltnomaden so unter der Woche im Einsatz, um die 70 sind es immer noch an den Wochenenden.
Wer bei den Dachzeltnomaden dabei ist, hat vielleicht über einen der social Media-Kanäle vom Hilfsangebot erfahren, oder darüber auf der Webseite der DZN gelesen (siehe INFO). Tue Gutes und rede darüber – das ist von zentraler Bedeutung um Freiwillige zu finden, die anpacken wollen. Kostenlos und gerne. Wenn dann etwa „60 Leute auf eine Familie zukommen, um ihr zu helfen“, so Vogel, sei das eine „überwältigende Erfahrung“ für die, denen geholfen wird.

Die Voraussetzung dafür ist allerdings eine Übersicht, wo welche Hilfe in welcher Dringlichkeit und Priorisierung benötigt wird. Eine Vollzeitaufgabe für eine Person, die die Hilfseisätze koordiniert und drei im Kommunikationsteam, bei dem die Hilfeanfragen auflaufen.
Nach den ersten Wochen in denen es ums Schlammschippen und Räumen ging, stellen sich den Helferinnen und Helfern mittlerweile andere Aufgaben: Muss ein ganzes Haus zurückgebaut werden – um das Wort „Abriss“ zu vermeiden? Müssen Fassaden abgeschlagen werden, Putz heraus gestemmt, wo sollen Bautrockner aufgestellt werden? Oder nur der geliebte Rollrasen vor dem Häuschen neu verlegt werden, was zwar nicht notwendig, aber gut fürs Gemüt sein kann.
Die Hilfsarbeit hört so schnell nicht auf. Die Dachzeltnomaden leisten sie sieben Tage die Woche.
„Das ist jeden Tag anders“, so die Erfahrung von Dennis Brandt. Fest steht nur: Die Arbeit hört so schnell nicht auf. Die Helferteams leisten sie sieben Tage die Woche zwischen neun und 16 Uhr, auch in den Ferien.
Die Zeit zwischen den Jahren nutzten Thilo Vogel und die Anderen allerdings auch für sich selber: Sie wollen auf dem von der Stadt Bad Münstereifel gepachteten Sportplatz von Rupperath ein autarkes Hilfscamp aufbauen um zu testen, wie sie in künftigen Einsatzfällen autark eine Versorgungseinheit wie in der Alten Schule betreiben können. Die erteilte Baugenehmigung gilt bis Ende Juni des kommenden Jahres.
Mehr als 300.000 Euro an Spenden hat die Dachzeltnomaden gGmbH bisher für die ehrenamtliche Hilfe in den Hochwassergebieten eingesammelt. Die Organisation ist der „Aktion Deutschland hilft“ angeschlossen. Unterstützung durch Sachspenden oder Dienstleistungen kommt hinzu: Ein Bohrer- und Schlaghammerhersteller hat die kostenlose Gerätewartung angeboten, ein anderer Stromaggregate. Die Idee ist so gesehen erfolgreich umgesetzt worden.
Zurück in die Alte Schule von Rupperath. Thilo Vogel und Dennis Brandt schauen sich in der Turnhalle kurz an. „Das hier ist schon verdammt stationär“, meint Thilo, der Dachzeltnomade, für den „das Stationäre“ eigentlich genau das ist, was er nicht will, sondern die Flexibilität „keiner örtlichen Bindung“.
Aber es gibt gerade einen guten Grund die Hilfe der Dachzeltnomaden, die spontan, unbürokratisch, „ehrlich, authentisch, direkt, erwartungsfrei“ sein will, weiter anzubieten. Sie wird schlicht gebraucht. Da muss das geliebte Weiterreisen eben warten.

ZUM BEISPIEL ALTENBURG
Von Rupperath geht es von der Höhe über dem Ahrtal über Insul und Dümpelfeld hinab ins Katastrophengebiet, dahin, wo auch die Dachzeltnomaden im Einsatz sind. Im Ahrtal ist kaum noch etwas so, wie es vor dem 14. Juli einmal war. Das Flussbett scheint deutlich verbreitert zu sein, Uferbepflanzungen, Bäume und Hecken sind verschwunden, Campingplätze geräumt. Weite, leere, planierte Flächen tun sich vor den steilen Hängen auf. Ersatzbrücken verbinden die Ortschaften. An manchen der vom THW gebauten Flussübergängen stehen in der Advents- und Weihnachtszeit große festlich geschmückte Weihnachtsbäume. Auf Transparenten ist der Dank an die Helfer zu lesen. Es muss weitergehen, heißt das. Zeichen der Hoffnung.
Die spürt man auch im Neubaugebiet an der Straße Am Weiher in Altenburg. Baustellen-LKWs fahren auf und ab, es dröhnt und hämmert aus vielen Häusern, nebenan stehen Gebäude leer, die nicht mehr bewohnbar sind, angrenzend aber auch Wohnhäuser mit offenbar neuem Fassadenanstrich, auf den Wiedereinzug ihrer Bewohner wartend.
An der Hausnummer 30 sind fünf junge Leute unter weißen Schutzhelmen und dicken Ohrschützern an Schlaghämmern im Einsatz. Sie bauen gerade eine Garage ab, wie schon das dazugehörige dreigeschossige Wohnhaus daneben, von dem nur noch die Decke des Kellers zu sehen ist.
Caro aus dem hessischen Taunusstein ist 22, studiert auf Förderschullehramt und ist dabei auch das zweite Hochschulsemester einfach liegen zu lassen. Stattdessen stemmt sie gerade einen Fensterrahmen aus der Fassung. „Ich habe das Gefühl, ich mache hier was sehr Wichtiges. Das Studium kann warten“, meint sie in einer kurzen Arbeitspause. Natürlich habe sie überlegt, mit der auch körperlich schweren Arbeit aufzuhören, „aber ich bringe es einfach nicht übers Herz. Ich mache weiter“.
Ähnlich denkt der Aachener Cedric, 24: „Ich war an einem Wochenende nicht hier, sondern Zuhause. Da habe ich in den Spiegel geschaut und mich nur gefragt: Was mache ich hier in meiner Wohnung?“ Die Antwort auf die Frage und Lebenssinn findet er gerade als Helfer im Dachzeltnomadenteam.
Eine Ecke weiter in der Straße Am Steinacker packt unterdessen Sander aus Anholt im Kreis Borken einen Dachziegel und legt ihn in die begonnene Reihe auf der Dachlattung einer Neubaugarage. Bis hier oben hat das Hochwasser gestanden. Das Ehepaar, dem das neue Einfamilienhaus mit Garagenanbau gehört, habe sich noch aufs Hausdach flüchten können, die Frau dabei auch noch hochschwanger, heißt es. Mit Sander sind Helfer aus Bonn, Hückelhoven, Donaueschingen und Oldenburg in Niedersachsen zu Aushilfsdachdeckern geworden.
Ja, meint Sander auf dem Garagendach, er arbeite hier bis auf weiteres einfach weiter. Er sei von Beruf Greenkeeper in einem Golfclub, der sei derzeit ohnehin geschlossen. Zwar gehe es zwischendurch im neuen Jahr noch auf eine Fortbildung, danach aber wolle er wieder hierhin zurück. Ins Ahrtal, an die Erft, Olef oder Rur, wo sie seine Hilfe mehr brauchen als bei der Pflege eines Grüns.
Fotos: Stefan Lieser
INFO: Die Dachzeltnomaden im Internet auf www.dachzeltnomaden.com, sowie auf allen wichtigen sozialen Medien.