„Europa ist kein Selbstläufer!“

Noch zwei Tage bis zur Europawahl in Deutschland. Eifelschreiber fragt  zum Abschluss der Themenwoche: Wie erleben Eifeler die EU in ihrem Alltag? Und was ist ihnen Europa heute noch wert?

Woher kommt die weit verbreitete Skepsis gegenüber der Europäischen Union? „Es wurde versäumt, den Menschen europäische Politik mit ihren Herausforderungen zu erklären. Man darf die Menschen aber nicht mit ihren Ängsten alleine lassen“, warnt Gordon Schnieder vor EU-Verdrossenheit, die sich vermutlich auch im Wahlergebnis am kommenden Sonntag niederschlagen wird. Er ist SPD-Landtagsabgeordneter und lebt in Birresborn. Schnieder wird eindringlich: „Europa war nie ein Selbstläufer. Für Europa, für die große europäisch Idee muss man täglich kämpfen.“

Dauns Landrat Heinz Peter Thiel mit der Resolution von Grenzkommunen in ganz Europa gegen einen Weiterbetrieb des „Bröckel-Atormreaktors“ , im belgischen Tihange. Denkt er an Europa, macht ihm auch anderes Sorge: „Wir dürfen die im Grenzgebiet zu Belgien und den Niederlanden zu findenden Gefallenenfriedhöfe aus den beiden Weltkriegen nie vergessen! Ein freies Europa ohne Kriege ist nicht selbstverständlich!“
Gordon Schnieder

Auf der Brücke über die A60 bei Steinebrück schauen zwei Männer auf die Straße unter ihnen. Von hier aus blickt man auf die ersten Masten der belgischen Autobahnbeleuchtung und den heute leeren Platz der einstigen Grenz- und Zollanlagen zwischen Ostbelgien und Deutschland. Christian Krings, langjähriger  Bürgermeister der Gemeinde und Stadt St. Vith, Hubert Tautges seit 33 Jahren der Verwaltungschef der  Gemeinde Winterspelt  sind sich einig: „Europa hat in unseren Grenzgebieten viel Vertrauen geschaffen. Wir leiden als kleine Politiker unter dem Misstrauen gegenüber der Politik allgemein.“

Eine „Höckerlinie“, Teil der einstigen Westwallanlagen der Wehrmacht, im Fuhrtenbachtal bei Höfen.

Krings, Jahrgang 1949, kann sich noch gut an die Zeiten der Schlagbäume erinnern: „Ich war Verkaufsleiter in einem großen Möbelhaus in St. Vith. Wie lange unsere Fahrer bei den täglichen  Fahrten zu den Kunden nach Prüm am Zoll warten mussten!“ Doch wie ist es seitdem geworden!

Was eint undenkbar war, wird in der Grenzregion Eifel/Ardennen mittlerweile schon seit Jahrzehnten gelebt:  Ehemalige Kriegsgegner arbeiten zusammen. Etwa in der deutsch-belgischen Gewerbeschau Comisa/GLS. Die erste Schau fand seit 1967 im Zwei-Jahreswechsel in St. Vith und Prüm statt. Seit einigen Jahren haben sich die Veranstalter auf den Titel „GLS“ geeinigt. Die „Grenzlandschau“ von Handel und Gewerbe aus der Eifel hüben und den Ardennen drüben findet nur noch in der Abteistadt statt, mit mehr als 150 Ausstellern und bis zu 20.000 Besuchern.

Mathilde Weinandy

Auch die EVBK – Europäische Vereinigung Bildender Künstler Eifel und Ardennen – ist ein solches Europaprojekt, initiiert von den Bürgern, nicht verordnet. Gegründet wurde sie schon 1956, da war der Zweite Weltkrieg erst elf Jahre vorbei. Ein Versöhnungsprojekt, schon ein Jahr vor Abschluss der „Römischen Verträge“, die die heutige EU begründeten.

Zurück zu Christian Krings und Hubert Tautges auf der Brücke über die A60 bei Steinebrück. Krings ist auch Präsident des Verwaltungsrates der St. Josef Klinik in St. Vith. Das IZOM-Abkommen hatte bis 2016 geregelt, „dass aus St. Vith oder Prüm der Notarzt kommt, je  nachdem, wer schneller am Unfallort sein kann.“ Auf der Wöchnerinnen-Station der St-Vither Klinik konnten auch Frauen aus in und um Prüm entbinden – das Krankenhaus in Prüm hat die Geburtenstation geschlossen.  Sogar bei den Kosten, die die deutschen Krankenkassen erstatten, „traten wir für maximal ein Jahr in Vorleistung“, so Krings. Doch das Abkommen wurde von der ostbelgischen Regierung gekündigt. Auch das ist Europa zwischen Eifel und Ardennen: Sicher sind manche Errungenschaften nicht.

Vom einstigen illegalen „Warenaustausch“ im deutsch-belgischen Grenzgebiet gibt es viele Anekdoten.

Den St. Vither und den Winterspelter verbindet aber noch mehr – und es sind nicht nur die Gemeinde- und Ländergrenzen überschreitenden Radwege, von denen es mittlerweile im Grenzgebiet eine ganze Reihe gibt (zum Beispiel den Kyll-Radweg). Hubert Tautges aus Winterspelt hat eine belgische Schwiegermutter, der Sohn von Christian Krings ist mit einer Waxweilerin verheiratet. Das deutsch-belgische Ehepaar  lebt in Pronsfeld, der Enkel von Krings wurde in St. Vith entbunden. Der „Musikverein Edelweiß“ in Winterspelt hat seit Jahren einen belgischen Dirigenten, und alleine 50 Familien aus Ostbelgien haben in der deutschen Nachbargemeinde gebaut. „Für uns hat es die Grenze doch eigentlich nie  gegeben. Wir leben zusammen“, so Hubert Tautges.

Die Pfarrkirche von Nideggen-Schmidt wird auch „St. Mokka“ genannt. Sie wurde angeblich vor allem mit Geld aus dem Verkauf über die deutsch-belgische Grenze geschmuggelten Kaffees finanziert.

Und wenn es vor der Grenzöffnung der lebhafte „Warenaustausch“ über die „grüne Grenze“, die von Tautges so genannten „Gemeindeverbindungswege“ war. Krings und Tautges kommen da schnell ins Erzählen. Details bitte nicht, Handlungsbeteiligte leben ja noch! Schmuggel, Schwarzmarkt im deutsch-belgischen Grenzgebiet, davon könnte auch Christoph Cremer, ehemaliger Leiter der Polizeiinspektion Prüm, manch Liedchen singen. 60 Kilometer Außengrenze überwacht die Dienststelle mit Zoll und Bundespolizei. „Wir haben 2005 im ‚Prümer Vertrag‘ die Zusammenarbeit mit den Kollegen in Belgien geregelt“, so Cremer, „das läuft gut!“ Man führt je nach Lage – und Personal – gemeinsame Kontrollen durch.  Die Grenzen wären wieder zu? Cremer will gar nicht darüber nachdenken, was das bedeuten würde.

Mathilde Weinandy, Stadtbürgermeisterin in Prüm, die ein letztes Mal zur Kommunalwahl am kommenden Sonntag antritt, und ihr Gerolsteiner Amtskollege Friedhelm Bongartz haben ihren eigenen Grund, warum sie für ein Europa ohne Grenzen sind. „Unsere Städtepartnerschaft mit Monthermé in Frankreich besteht seit 57 Jahren. Daraus ist schon lange eine Freundschaft geworden“, so die Bürgermeisterin.

Würde Europa scheitern, “ es wäre eine Katastrophe“, warnt Marco Weber, Kreisvorsitzender des Bauern- und Winzerverbandes Rheinland-Nassau e.V. in der Vulkaneifel und FDP-Landtagsabgeordneter.

Zwischen Städten in Ländern, die „Erbfeinde“ waren über nicht nur zwei Weltkriege. Noch 1949 wurde das schon stark kriegsbeschädigte Prüm bei der „Explosionskatastrophe“ eines Munitionsbunkers auf dem Kalvarienberg oberhalb der Stadt weiter zerstört. Das bewusst zu machen und davor zu warnen, sei „gerade auch für die junge Generation wichtig, die ein Europa mit Grenzen gar nicht mehr kennt“, betont Weinandy.

Aus Kriegsgegnern wurden „Freunde, das würden wir auch bleiben, wenn es wieder Grenzen gäbe“, ist sich ihr Amtskollege Friedhelm Bongartz in Gerolstein sicher. Seit mehr als dreißig Jahren hat die Stadt eine Städtepartnerschaft mit Gilze en Rijen in den Niederlanden und seit 1987 auch mit der Stadt Digoin in Frankreich.

Wenn dieses Europa scheitern würde, „es wäre eine Katastrophe“, warnt Marco Weber, Kreisvorsitzender des Bauern- und Winzerverbandes Rheinland-Nassau e.V. in der Vulkaneifel und FDP-Landtagsabgeordneter. „Niemand kann ernsthaft wollen, dass es so weit kommt“, ist auch die Meinung von Alois Söhngen, Verbandsgemeindebürgermeister in Prüm.

Europa ist ein Europa der Menschen! So war es gedacht.

Soll sich das alles erneut ändern? Wo es an der deutsch-belgischen  Grenze insgesamt  „zwischen 1949 und 1958 von deutscher Seite einen Schießbefehl gab, um den blühenden Schmuggel zu bekämpfen“, so Michael Balter aus Losheim. Damals gab es Tote, es können mehr als 30 gewesen sein.

Europa ist ein Europa der Menschen! So war es gedacht, das wird heute vergessen, wenn Nationalpopulisten wie Marine Le Pen vom Rassemblement National (vormals Front National) in Frankreich versuchen, alte nationalistische Grenzen in den Köpfen wieder aufzustellen, und die Europäische Union radikal zu verändern. Wie werden Rechtspopulisten wie Matteo Salvinis Lega Nord und die deutsche AfD bei den Europawahlen abschneiden? Was wird, wenn der United Kingdom tatsächlich die EU verlassen hat? Die EU besteht bald nur noch aus 27 statt 28 Staaten. Für Manche sind das immer noch zu viele, und sie haben für diese Meinung ihre Gründe.

Auch mit „Pulse of Europe“ versuchen junge Europäer ihr Europa zu verteidigen.

Europa als Idee, auch seine überregionale Verwaltungsform, die Europäische Union ist ja etwas einmaliges. Noch nie gab es in weiten Teilen Europas eine so lange Zeit ohne Kriege und einen so freien Handel gab. Dieses Europa braucht Gefühl und Leidenschaft.  Es muss beständig hinterfragt, an die Lebenswirklichkeit seiner Bürger angepasst werden und seinen Platz unter den Global Playern finden. Doch am Grundsätzlichen sollte man nicht rütteln. In der Eifel wissen viele, was damit gemeint ist.

Als der französische Staatspräsident Emmanuel Macron am Abend seiner Wahl über den Vorplatz des Louvre in Paris zu seinen jubelnden Wählern schritt, erklang nicht die Marseillaise, sondern der Schlusssatz von Beethovens 9. Sinfonie: die Europa-Hymne. Das haben die jungen Leute in der EU, die sich in der Bewegung „Pulse of Europe“ engagieren, genau registriert. Es machte nicht nur ihnen Mut – wenigstens in diesem historischen Moment. Ein Regionalbüro der Bewegung gibt es auch in Trier.

Titelbild: Christian Krings, ehemaliger Bürgermeister der belgischen Gemeinde St. Vith (links) und sein Winterspelter Amtskollege Hubert Tautges auf der Autobahnbrücke vor dem ehemaligen Grenzübergang in Steinebrück.

Foto Gordon Schnieder: Harald Krichel/commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=53351109