„Grau Katt“ und andere Schrecken

Norderney ist schön, traditionell, gelegentlich gut versnobt und außerdem zur Cluburlaubsaison Deutschlands nördlichster Ballermann. In diesem vielschichtigen Biotop ermittelt Gent Visser,  Oberkommissar der kleinen Polizeiwache der Insel. Und kommt eines Tages einem Verbrechen auf die Spur, das Jahre zurückliegt.

Bei „Grau Katt“, einer mysteriösen Seenebelwand, die binnen Minuten aufzieht und die ganze Insel einhüllt, entdeckt der Fotograf Janko Rass am „Schiffswrack“ an der Ostspitze von Norderney eine skelettierte Frauenhand im Sand.

Der Fund  bei diesem Ostfrieslandinsel-„Nebel des Grauens“ ist die Extremität einer verschwunden geglaubten Norderneyerin, ein Mord, der sich vor zwölf Jahren ereignete. Aufruhr auf der Insel, es  kommt zu weiteren Gewalttaten, und auch ein Psychopath a la Josef Fritzl treibt in „Die Toten von Norderney“ sein grauenhaftes Unwesen.

Mitten drin in den Ermittlungen ist neben Gent Visser auch Carlo Faust, Kollege von der vorgesetzten Polizeiinspektion Aurich, die beiden spielen wie immer in den Norderney-Krimis von Manfred Reuter die Hauptrollen. Sie sind aber auch Projektionsflächen für Schilderungen des Insellebens, treffen bei ihren Ermittlungen die unterschiedlichsten Charaktere, machen Norderney so lebendig, wie das in einem mit viel Ortskenntnis und Liebe zum Detail geschrieben Regionalkrimi möglich ist.

Gent Visser ist das Alter Ego von Manfred Reuter. Der gebürtige Eifeler – er stammt aus Prüm – lebt seit Jahren mit seiner Familie auf dem Dorf bei der ostfriesischen Kreisstadt Aurich und hat einige Jahre für die Regionalzeitung Ostfriesischer Kurier von Norderney berichtet.

Natürlich kennt Reuter seine Insel, und entsprechend dicht gepackt ist „Die Toten von Norderney“, so der Titel seines neuesten Krimis, mit der genauen Beschreibung von Örtlichkeiten, die jeder Norderney-Urlauber ebenfalls schon einmal gesehen oder besucht hat: Das „Schiffswrack“ an der Ostspitze, von hier geht der Blick hinüber aufs kleine Baltrum, die legendäre „Milchbar“, die Surfer am „Januskopf“, der „Inselkeller2ie Kurgebäude – alles das macht Reuter in seinen Krimis leicht lesbar und unterhaltsam lebendig, auch dieses Mal.

Sein Herz schlägt vor allem für die Insulaner, die kleine Gemeinschaft der rund 5700 Einwohner, die mit und vom Tourismus leben und leben müssen. Nicht zum ersten Mal setzt Reuter den freiwilligen Helfern der Inselfeuerwehr ein literarisches Denkmal. Auch das Norderneyer Platt kommt zu literarischen Ehren. Mal mit feiner Ironie, mal karikaturistisch skizziert, begibt Reuter sich aber auch in die „besseren Kreise“ der Insel, wo mehr Schein als Sein die Maxime ist.

Eine Hymne dichtet Reuter immer wieder auf die Nordsee: die Gezeiten, Stürme und die erfrischende Kraft der Wellen beim ekstatischen Bad. Die offene Naturbegeisterung, anerkennenswerterweise nicht kitschig erzählt, sondern realistisch genau, ist für die Inselkrimis des „Eifelers hinterm Deich“ typisch. „Grau Katt“ – wie der „Seenebel des Grauens“ – hätte auch als Buchtitel den Plot dieses Inselkrimis besser getroffen als „Die Toten von Norderney“.

Wer sich in Corona-Zeiten von Zuhause in einen besonderen Inselurlaub weglesen will, dem ist „Die Toten von Norderney“ bei allem handfesten Verbrechen empfohlen. Bestellbar ist der Krimi bei der Buchhandlung vor Ort, wenn sie einen Online-Shop hat.

Info: Manfred Reuter, Die Toten von Norderney, 236 Seiten, Taschenbuch, Emons-Verlag, Köln, 12 Euro, ISBN978-3-7408-0812-9