Westwind

Was passiert im Fall eines GAUs im Eifelkreis Bitburg-Prüm und Vulkaneifel, die sich im Fall-Out-Radius des „Bröckelreaktors“  Tihange II bei Huy in Belgien und von Cattenom in Frankreich befinden?  Ein Szenario, erstveröffentlicht im Herbst 2016, das erneut Online geht:  Laut WDR-Recherchen vom 22. August hat das Bundesamt für Strahlenschutz rund 190 Millionen Jodtabletten bestellt. Die Begründung: Vor allem von grenznahen AKW gehen Risiken aus – und darauf müsse man vorbereitet sein.

Manfred Jänen aus Winterspelt im nordwestlichen Zipfel des Eifelkreises Bitburg-Prüm hat es schon immer geahnt. „Warum sind die belgischen Autobahnen nachts beleuchtet? Das ist Strom aus Tihange II. Und gestern Nacht blieb die Autobahn in Steinebrück dunkel!“

Denn am Abend zuvor war es so weit. Ein Störfall der höchsten Stufe 7 auf der INES-Skala. INES steht für „Internationale Bewertungsskala für bedeutsame Ereignisse in kerntechnischen Anlagen“. 7 heißt: Fukushima. Die  Katastrophenschutzpläne werden seit der Reaktorexplosion in Japan am 11. März 2011 für einen solchen Super-Gau verschärft. 2018 wollte man in Rheinland-Pfalz so weit sein. Bisher waren alle Planungen auf Stufe 6 ausgelegt – das wäre schon Katastrophe genug.

Manfred Jänen aus dem Grenzort Winterspelt hätte es früh gemerkt: Tihange II liefert keinen Strom mehr, denn die Autobahnbeleuchtung der A60 auf belgischer Seite ist aus.

Eifelschreiber geht in diesem fiktiven Horrorszenario vom Super-Gau aus, von INES 7: „Ein katastrophaler Unfall mit schwerster Freisetzung von Radioaktivität, Auswirkungen auf die Gesundheit und Umwelt in einem weiten Umfeld“.

Große Teile der rheinland-pfälzischen Eifel liegen innerhalb der „Fernzone“. Das ist ein Radius von 100 Kilometern um eine kerntechnische Anlage. 100 Kilometer Luftlinie von Tihange II oder Cattenom. In Cattenom wurden alleine 2016 mehr als 30 Störfälle registriert.

78 Kilometer Luftlinie sind es nur noch von Winterspelt bis Tihange. Winterspelt ist Grenzgemeinde zur belgischen Gemeinde Burg Reuland. Die Our ist der Grenzfluss. Nach Belgien: einfach nur durchs Wasser gehen, drüber spannt sich die Grenzbrücke bei Steinebrück. Näher an Tihange II geht es in der Eifel nicht.

Hubert Tautges

Der 1982 in Betrieb genommene Reaktor ist der mittelalte und umstrittenste  von drei Druckwasserreaktoren am Standort.  Am „Day after“, dem „Tag danach“, steht fest: Er hätte nicht wieder in Betrieb genommen werden dürfen. Tausende von Haarrissen sind seit 2012 im Reaktordruckbehälter, der den Reaktorkern mit den Brennelementen umgibt, festgestellt worden. 2015 hatte die Aufsichtsbehörde des AKW-Betreibers Electrabel, die belgische Föderalagentur  für Nuklearkontrolle (FANC), den 2014 deshalb abgeschalteten „Bröckel-Reaktor“ wieder ans Netz gelassen.  Die Betriebserlaubnis wurde bis 2025 verlängert.

Und dann kam die Wolke. Von Westen, daher weht der Wind in der Eifel oft.

Was vor dem Ausfall der Autobahnbeleuchtung nahe Winterspelt genau passierte, ist für unsere Projektion gar nicht so wichtig: Der Reaktor ist explodiert. Und dann kam die Wolke. Der Wetterdienst hatte kurz zuvor starken Westwind vom Atlantik bis in die Eifel vorhergesagt.  „Der weht hier meistens“. Winterspelts altgedienter Bürgermeister Hubert Tautges, 71, blickt zum Himmel: Er ist grau.

Auf den GAU aus Tihange „ist Deutschland nicht vorbereitet.“ Eifelkreis-Landrat Joachim Streit sitzt in seinem schmucken Landratsbüro und auch in den Nachtstunden vor dem „Day after“, dem „Tag danach“ ist er natürlich ins Dienstbüro gekommen. Genau wie sein Kollege Heinz-Peter Thiel im Daun, Kreisstadt des Vulkaneifelkreises. Bei den beiden hatte in unserem Szenario, und alles was jetzt folgt, ist anzunehmen, mitten in der Nacht das Smartphone geklingelt.

Am anderen Ende eine automatische Ansage über MoWas, das seit 2013 aktive „Modulare Warnsystem“ des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. MoWas kann sich über NINA, die Notfall-Informations-und-Nachrichten App des Bundes, im Katastrophenfall vorrangig auf alle Endgeräte wie Smartphone oder Telefon hochschalten.

Landrat Heinz-Peter Thiel in Daun mit der Erklärung für eine Abschaltung von Tihange II, die die Repräsentanten von zwei Bundesländern, Ostbelgien, der Städteregion Aachen und aller Eifellandkreise unterschrieben haben.

Wenige Minuten später erreicht Streit und Thiel die Aufforderung des Fachreferats 20 der Allgemeinen Dienst- und Aufsichtsdirektion (ADD) in Trier: Berufen Sie den Notfallstab ein. Veranlassen Sie, was vorgeschrieben ist zum Schutz der Bevölkerung! Die ADD koordiniert die Alarm- und Einsatzplanung in ganz Rheinland-Pfalz. Die höchste Warnstufe ist  jetzt Realität, nachdem die belgischen Behörden der „Vorwarnung“ am frühen Abend innerhalb einer Stunde die „Ernstfall“-Meldung über das Notwarnnetz folgen ließ. Bei der Aufsichtsbehörde in Trier, auch im Kreishaus in Daun wurde der Katastrophenstab einberufen und im Sitzungssaal Kästen voller Mineralwasser für eine lange Nacht deponiert.

Das DRK muss nun mit den Ärzten die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung organisieren.

Dazu Laptops und per Satellit gesteuerte abgesicherte Handys für die Kommunikation etwa des Leiters der DRK-Rettungsdienstes Eifel-Mosel-Hunsrück. Das DRK betreibt in Daun, Gerolstein, Kelberg und Jünkerath Rettungswachen. Es soll sich um die Evakuierung und mit Nuklearmedizinern, Radiologen, vermutlich auch allen Allgemeinärzten, um die medizinische Betreuung der Bevölkerung kümmern.

Blick auf die A60, die Deutschland und Belgien verbindet, kurz vor dem ehemaligen Grenzübergang Steinebrück auf der Ourbrücke.

In unserem „Day after“-Szenario hat sich auch Christoph Bach, Kreisfeuerwehrinspektor im Vulkaneifelkreis (bis 2018) mit Vollgas von seinem Wohnort Wiesbaum Richtung Kreishaus in Daun auf den Weg gemacht. „Wir werden die Jodtabletten verteilen.“ Er muss die ganze Fahrt über an diesen Auftrag denken. Geübt wurde das für den ganzen Landkreis noch nie. 124 örtliche Feuerwehreinheiten gibt es zwischen Kelberg und Stadtkyll. Doch wo sind jetzt die Kaliumjodid-Tabletten für den Schutz vor Schilddrüsenkrebs?

Die Kaliumjodid-Tabletten lagern in einem Landesdepot. Wie sie ins Eifeldorf kommen, ist logistisch eine Meisterleistung.

Sie lagern zu diesem Zeitpunkt im Landesdepot in Mainz. In acht bundesweit bestehenden Lagern waren es noch 2016 insgesamt 50 Millionen Stück. Diese Zahl steigt noch bis Ende des Jahres 2019 um das dreieinhalbfache:  Laut WDR-Recherchen vom 22. August 2019 hat das Bundesamt für Strahlenschutz rund 190 Millionen Jodtabletten bestellt.

Zurück zum Landesdepot in Mainz: Sind die Bestände in unserem Szenario dort aufgebraucht, muss für den Schutz der Bevölkerung in der Eifel Nachschub sogar aus Karlsruhe eingeflogen werden. Das ist dann das nächstgelegene Depot. Über Mainz und Trier landet schließlich ein Hubschrauber mit den Schutztabletten zum Beispiel in Gerolstein.

Die Hillesheimer Apotheker Markus (links) und Friedhelm Knie wüssten nicht, wo sie im Notfall die Menge an benötigten Kaliumjodid-Tabletten bekommen sollten.

„Das ist unsere Ausgabestelle. Wir müssen dann sehen, wie wir da hin kommen. Wenn der Verkehr schon längst zusammengebrochen ist“. Thomas Dorloff, 25, war 2016 der Wehrführer der Freiwilligen Feuerwehr im 480-Einwohner Ort Birgel. Auf seinem Mountainbike ist er zum Termin am Bürgerhaus neben der Wagenhalle seiner Löschgruppe gekommen. Das Rad könnte ihm im Worst-Case noch gute Dienste tun.

„Natürlich können Sie sich mit Kaliumjodid-Tabletten auch bevorraten.“ Friedhelm Knie von der Löwen-Apotheke in Hillesheim kann sich allerdings an entsprechende Fragen seiner Kunden kaum erinnern. „Die handelsüblichen Jod-Tabletten reichen dann nicht. Sie haben 100 bis 200 Mikrogramm Jod. Da müssten sie an die 1300 Stück einnehmen, um ein Joddepot in der Schilddrüse aufzubauen, das die Ablagerung von radioaktivem Jod durchs Einatmen blockiert.“

Die Evakuierung geschieht mit Bussen – doch die Straßen sind schon alle gesperrt oder zu.

Sohn Markus Knie, der die Geschäfte vom Vater übernommen hat, schaut bei seinem Großhändler Online nach: „Wir könnten die Kaliumjodid-Tabletten mit der richtigen Dosierung von 130 Milligramm für Kinder ab 12 Jahren und Erwachsene, und auch mit etwa 65 Milligramm für Kinder  zwischen drei und zwölf Jahren, in ein bis zwei Tagen hier haben.“

Am „Tag danach“, dem „Day after“, wäre das zu spät. Die maximale Wirksamkeit erreichen die Schutztabletten spätestens zehn Stunden vor dem Fall-Out. Zehn Stunden danach sinkt sie schon wieder gegen Null. Es muss also eine Vorwarnstufe geben, die ins Zeitfenster passt. Und vorgesehen sind die Tabletten auch in Rheinland-Pfalz ohnehin nur für Kinder und Erwachsene bis 45. Für knapp Zweidrittel der rund 60.000 Einwohner etwa im Landkreis Vulkaneifel.

Alex Coenen

„Die Evakuierung geschieht dann mit Bussen, und wir müssen die Krankenhäuser finden, die kontaminierte Personen aufnehmen und untersuchen können“. Dauns  Landrat Heinz-Peter Thiel bleibt ruhig. Doch auch er hat das „Auskunftsersuchen der Kommunalen Aktionsgemeinschaft DreiländerRegion gegen Tihange“  an die EU-Kommission in der Hand. Über 80 Kommunen auch aus  Belgien, Luxemburg und den Niederlanden haben unterschrieben. Alle Eifelkreise sind dabei.

Luxemburgs Premier bot den Cattenom-Betreibern Geld, wenn sie den Reaktor abschalten.

Acht Millionen Menschen leben innerhalb der 100-Kilometer „Fernzone“ vom kollabierten Reaktor Tihange II. oder von Cattenom. Einer Klage gegen den Betrieb von Tihange II vor dem Belgischen Oberverwaltungsgericht hat sich 2016 neben Nordrhein-Westfalen auch Rheinland-Pfalz angeschlossen.  Xavier Bettel, Luxemburgs Premierminister, will es ganz direkt: Er hat dem Betreiber von Cattenom Geld dafür geboten, wenn der Altreaktor vom Netz geht.

Neben der Landesumweltministerin Ulrike Höfken (der Beitrag bezieht sich noch auf die vorherige SPD-Grünen-Koalition), die Grünen-Politikerin lebt in der Region und nennt den Kampf gegen die Atomkraft als eigentliches Motiv, in die Politik zu gehen, sind auch die oppositionellen Christdemokraten im Landtag von Rheinland-Pfalz  in Mainz für die Abschaltung von Tihange II. Patrick Schnieder, Vorsitzender der CDU im Land und Bundestagsabgeordneter, fordert „in Europa endlich einheitliche Sicherheitsanforderungen für Kernkraftwerke. Der Meiler Tihange II entspricht keineswegs den strengen deutschen Vorschriften. Der Reaktor bleibt ein Risikofaktor, von dem eine unzumutbare Gefahr für die Menschen in der Region ausgeht.“

Geeignete Atemschutzmasken in ausreichender Zahl? Beim Baumarkt winken sie nur müde ab.

Und wenn die radioaktive Wolke langsam näher kommt? „Wir würden die Bevölkerung über alle sozialen Medien, Hörfunk, auch mit Lautsprecherwagen warnen“, so Dauns Landrat Thiel: Bleiben Sie im Haus! Die Einbrüche und Plünderungen in den Supermärkten hätten sofort einen weiteren Ausnahmezustand geschaffen.

„Wenn Sie dann raus müssten, dann bräuchten Sie eine Atemschutzmaske der höchsten Partikelfilterklasse FFP 3“. Alex Coenen, Fachberater im Baumarkt Franz Müller in Niederprüm, holt die Schutzmaske aus der Verpackung: „Die kosten zehn bis zwölf Euro. Wir haben ein paar vorrätig. Doch käm dann Jeder in die Baumärkte?“

Tihange II bei Huy in Belgien. Foto: Michiel Verbeek, CC BY-SA 3.0;  commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5747203

Das müsste das Retter-Team um Birgels Wehrleiter nicht. „Wir haben einen Trupp mit vier Atemschutztanks und Atemschutzmasken.“ Auch Strahlenschutzanzüge? „Nein, die sind nur in Daun.“ Beim einzigen „Gefahrstoffzug“ des Landkreises Vulkaneifel in der Garage der Feuerwehr der Kreisstadt. Ein „Gerätewagen Gefahrgut“, ein „Einsatzleitwagen“. Aber ein Messwagen für die Bestimmung des tatsächlichen radioaktiven Fall-Outs steht in Gerolstein, das kreisweit einzige  Dekontaminationsfahrzeug in Jünkerath. Das ist andernorts nicht anders. Die Fahrzeuge würden vermutlich am Standort bleiben müssen. Nur: am „Day after“ sind die Straßen zu.

„Dann gilt nur noch: Rette sich, wer kann!“ glaubt der Landrat in Bitburg.

Dann, nach dem Super GAU, den Eifelschreiber hier angenommen hat, wird auch noch anderes klar sein. Die noch einmal präzisierten und verschärften bundes- und Bundesländerweiten verpflichtenden Einsatzpläne, die die Arbeitsgruppe „Fukushima“ der Fachminister und Bundesbehörden 2014 in Münster (PDF) beschlossen haben, werden vielleicht in der Realität nicht so funktionieren wie geplant.

Dann wenn es ganz schlimm kommt, befürchtet Bitburgs Landrat Joachim Streit, „gilt nur noch: rette sich, wer kann!“ „Und unsere schöne Eifel wird nicht mehr bewohnbar sein. Es wird uns gehen wie den Asylbewerbern: Wir sind auf der Flucht.“ Winterspelts Ex-Bürgermeister Hubert Tautges schaut zum Himmel. Näher an Tihange II geht es im Eifelkreis Bitburg-Prüm nicht. 78 Kilometer Luftlinie. Es ist Mitte August 2016. Der Himmel über Winterspelt ist sommerlich-strahlend blau.

Titelbild: Michiel Verbeek, CC BY-SA 3.0;  commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5747203/Bearbeitung Eifelschreiber/Stefan Lieser