Schuld auf dem Weg zurück

Das Ahr-Hochwasser vom 14. auf den 15. Juli 2021 hat alleine in Schuld an der Oberahr 16 Häuser, Hallen und Werkstätten entweder weggespült oder die Gebäude mussten danach abgerissen werden. 144 von 320 Haushalten waren unterschiedlich schwer betroffen. Der Schaden nur an der kommunalen Infrastruktur beträgt 15 Millionen Euro. Gut eineinhalb Jahre danach soll ein Stück Normalität in den 360-Einwohner-Ort zurückkehren: Nach 15-jähriger Pause werden bis Karfreitag erstmals wieder die 1983 begründeten Passionsspiele in der Pfarrkirche aufgeführt. Doch was ist schon „normal“ in Schuld.

Bepflanzte Blumenkästen in der Mauer an der Pfarrkirche sollen Frühlingsstimmung vermitteln, doch im historischen Ortskern von Schuld unterhalb des Kirchbergs sind die Wiederaufbauarbeiten  auch gut anderthalb Jahre nach dem verheerenden Hochwasser der Ahr immer noch in vollem Gange.

Ja, das sei ein Symbol dafür, dass es wieder aufwärts gehe, meint Olaf Justen. Doch so recht will man ihm das gerade nicht glauben. Der 51-Jährige steht an der Stelle der einstigen Hauptstraße von Schuld, die immer noch eine kaum erkennbare braune Dreckpiste ist, und deutet auf ein dickes Bündel großvolumiger gelber und blauer Leitungsrohre einige Meter vor ihm unterhalb eines abgebrochenen Stücks Asphalt. „Da stand mein Haus, genau da, wo die Trinkwasser- und Stromleitungsrohre liegen. Das Loch, das die Ahr gerissen hat, war tiefer als mein Keller.“

Seit der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 ist Olaf Justen obdachlos, sein Häuschen: von der Ahr, die 7,87 Meter hoch in Schuld stand, weggespült. Nach 1790, 1804, 1910 und 2016 das fünfte „Jahrhunderthochwasser“, und so hoch wie noch nie. Olaf Justen hatte damals nur noch das, was er am Leibe trug. Die Uniform der Freiwilligen Feuerwehr. Heute lebt er bei Bekannten in einem bescheidenen Zimmerchen. Wie war das damals? „Es ging nur darum, Menschenleben zu retten. Ich machte mir Sorgen um die, an die ich nicht mehr herankam“, erinnert sich Justen. Er wirkt bei dem Gedanken angefasst. Es kommen eben „immer noch so Dinge hoch“, meint er nur, wenn er an diese Stunden und die Tage danach zurückdenkt in denen er das „Bindeglied zwischen Feuerwehr, Bundeswehr und dem THW“ war.

Schuld war ein Ort der „Ahr-Romantik“: Die schönste Etappe des Ahrsteigs führt hier vorbei.

Im Hintergrund hört man die Ahr rauschen, die nach dem Wintereinbruch Anfang März stark angeschwollen ist und flussaufwärts erste Wiesenflächen flutet. Die schnell fließende braune Brühe hat mit Ahr-Romantik hier, wo der Ahrsteig seine schönste Etappe entlang der Felsen mit den ausgesetzten Aussichtspavillons ins Tal hat, nichts mehr zu tun.

Er hätte gerne trotzdem genau hier wiederaufgebaut, meint Olaf Justen, doch ihm wie vier Anderen aus Schuld wurde das verboten. Neue Risikokarten für die Ahr in Schuld verbieten es. 34 Häuser zwischen Müsch und Sinzig dürfen nicht wiederaufgebaut werden. 34 von 9000, die in irgendeiner Form vom Hochwasser betroffen sind. Manche nennen das schlicht fahrlässig wenig.

„Hier stand mein Haus“. Olaf Justen an der Stelle, an der die Ahr sein Eigenheim weggespült hat. Jetzt lagern hier die Rohre für die neue Trinkwasser- und Stromleitung in Schuld.

Olaf Justen ist einer der 34 Hausbesitzer. Er hat Bauland anderswo gefunden. In einem von der Gemeinde neu erschlossenen Baugebiet in einem oberhalb gelegenen Ortsteil. Um die zehn Grundstücke sind geplant, viele davon für Hochwassergeschädigte unten an der Ahr. Das Areal grenzt an ein älteres Neubaugebiet, derzeit ist es offiziell noch Bauerwartungsland. Anwohner stellen sich quer, befürchten das Ende ihrer Wohnidylle am Ortsrand, alleine schon der erwartbare Baulärm. Also hat die Gemeinde ein nicht beklagbares Umlegungsverfahren eingeleitet. Solidarität unter Betroffenen und offenbar Nicht-Betroffenen? Hier jedenfalls nicht mehr, und nicht mehr überall, meint Ortsbürgermeister Helmut Lussi nur: „Das macht mich fassungslos!“

Wo einst Häuser nahe des Ahrufers standen, lagert jetzt Baumaterial. Die Häuser wurden von der Ahr weggespült oder mussten danach abgerissen werden (oben). An den Kreuzungspunkt zweier Gassen erinnern nur noch Felsbrocken. Ortsbürgermeister Helmut Lussi fühlt sich in Gesprächen mit Betroffenen immer wieder „eher wie ein Pfarrer oder Seelsorger“.

Die Zeiten als alle mitanpackten nach der Katastrophe sind vermutlich aber nicht nur in Schuld ein Stück weit Geschichte. „Das hat nachgelassen“, meint Helmut Lussi, den die grundsätzliche Gefahr des Auseinanderfallens der Dorfgemeinschaft bedrückt. Längst sind ja nicht alle Anträge auf Wiederaufbauhilfe bewilligt, auch gut eineinhalb Jahre danach noch nicht. „Ich habe eher das Gefühl, dass das Ganze jetzt in die Mühlen der Bürokratie geraten ist“, urteilt Olaf Justen, der ebenfalls auf Gelder der rheinland-pfälzische Investitions- und Strukturförderbank (ISB) in Mainz wartet, denn eine Elementarversicherung für sein Häuschen an der Ahr hatte er nicht.

Den Betroffenen wird viel Geduld abverlangt. Die Wiederaufbauhilfen kommen – doch das dauert.

Die Zuweisungen werden kommen. 80 Prozent der Kosten, die fehlenden 20 könnte er über die Fonds der Aktionsbündnisse der Wohlfahrtsverbände decken. Doch bis dahin heißt es für ihn wie für viele auch in Schuld: warten. Auch gut eineinhalb Jahre nach der Katastrophe.

Die Lage wäre ja noch schlimmer, wenn es nicht den „Bürgerfonds Hochwasserhilfe“ der Verbandsgemeinde Adenau gegeben hätte, meint Bürgermeister Lussi. Allein für Schuld wurden so rund 2,5 Millionen Euro gespendet, über acht waren es insgesamt für die sechs Überflutungsgebiete im Verbandsgemeindegebiet. „Wir sind mit dem Gemeinderat in alle Haushalte gegangen: Schreibt auf, was fehlt, oder kaputt ist, haben wir den Leuten gesagt“, so Lussi. Am Ende konnten „zwischen 15- und 45.000 Euro“ pro Betroffenen auf dem kurzen Dienstweg ausgezahlt werden.

Auch die unter Denkmalschutz stehende Domhofbrücke, die beim Ahr-Hochwasser stark beschädigt wurde, soll wiederaufgebaut werden. Sie verbindet zwei Ortsteile von Schuld (oben). Manuela König (links) und Vanessa Klaesgen helfen im Info-Point bei der Antragstellung auf Gelder der Investitions- und Strukturbank des Landes Rheinland-Pfalz. Unterschiedliche Geschwindigkeiten in der gleichen Gasse: Einerseits begonnener Wiederaufbau, daneben oder gegenüber immer noch Ruinen.

Doch wie geht es im Ort insgesamt weiter? Immer noch ist der historische Ortskern von Schuld ein Chaos aus toten Häusern, wilden Brachen mit Lagerflächen für Baumaterial, die alten Gassen sind kaum noch zu erahnen. Überall stehen Behelfsstraßenlampen auf großen Boxen. Nur ab und zu tauchen hier neu gebaute Häuser und sanierte Fassaden auf. Ein Flickenteppich. Zwei Straßen sollen demnächst erneuert werden, verspricht Bürgermeister Lussi, die Genehmigungen sind vorhanden. Konkret soll es im Mai soweit sein – wenn die neue Trinkwasserleitung – die blauen Rohre, die auf Olaf Justens einstigem Grund und Boden liegen – verlegt sind.

Auch die unter Denkmalschutz stehende Domhofbrücke, die zwei Ortsteile verbindet, soll wideraufgebaut  werden. Sofern das noch benötigte Bodengutachten vorliegt. „Aber die Gutachter warten ja nicht auf Schuld. Die werden an der ganze Ahr gebraucht“, so Lussi. Und dann fällt der Satz, den man hier immer wieder hört: „Anderen Orten geht es doch noch viel schlimmer als uns. Bei uns ist keiner durch das Hochwasser ums Leben gekommen!“

Absurdes Theater: Er solle doch bitte noch den Zählerstand ablesen, meinte der Stromversorger. Doch das Haus war ja von der Ahr weggerissen worden.

Er habe angesichts all dessen, was in Schuld zu tun ist, noch Glück, meint der Bürgermeister, „ich bin 67 und seit vier Jahren im Ruhestand. Ich habe die Zeit dafür.“ Und dann wechselt er unerwartet das Thema: „Das hätte man wissen können. Man hätte die Bevölkerung rechtzeitig evakuieren können!“ Doch der damalige Landrat tat das gerade nicht. Wie sich herausstellte, dinierte er am Abend des 14. Juli in einem Restaurant, während auch in Schuld die ersten Häuser schon unter Wasser standen.

Es ist eine Mischung aus Ärger, Wut und Verzweiflung, die man bei Lussi heraushört, wenn er darüber spricht. Auch eineinhalb Jahre danach. Doch dann der Blick nach vorne: Vier neue Retentionsgebiete wurden mittlerweile im Ortsgebiet von Schuld ausgewiesen, Flächen, die die Ahr künftig nutzen können soll. Eine überdeckt das einstige Grundstück von Olaf Justen. Man habe ihm ja vorgeworfen, dass sein Haus „den Abfluss der Ahr an der Stelle blockiert habe“, schüttelt er nur den Kopf. Dass ihn die Telekom bat, als er seinen Festnetzanschluss abmelden wollte, er möge doch bitte den Router zurückschicken, oder die RWE ihn aufforderte vor Kündigung des Stromanschlusses den Zahlerstand abzulesen – alles Dinge, die man nicht für möglich hält. Justen wie Andere haben es erlebt.

In diesem Jahr werden die Passionsspiele wieder aufgeführt – ein kleines Zeichen der Normalität in Schuld (Szenenbild: Jesus und seine Jünger beim gemeinsamen Gebet vor dem letzten Abendmahl.)

„Nach gut eineinhalb Jahren muss man aber auch sagen, es läuft jetzt besser mit den Anträgen“, versucht Manuela König im Pfarrheim von Schuld dem Ganzen eine positivere Perspektive abzugewinnen. Die gelernte Kirchenmusikerin ist zusammen mit Vanessa Kläsgen beim „Helfer-Stab gGmbh“ angestellt. Sie sind das Team im „Info-Point“, dem Bindeglied zwischen den Betroffenen und der ISB-Bank des Landes Rheinland-Pfalz, wenn es um die Einreichung der Anträge auf Wiederaufbauhilfe geht. Ja, die Zahl lasse seit dem Dezember des vergangenen Jahres nach, „aber es kommen immer noch Erstanträge“, wundert sich König.

Die technische Ausfüllhilfe, die die beiden Frauen geben können, sei aber nur das Eine, meint König. Genauso wichtig sei, „dass wir Zuhören, empathisch sind“. Sie seien da schon so etwas wie Seelsorger.

„Die Passion ist für viele eine Herzensangelegenheit“, ist Resi Weiler, die aus Schuld stammt und seit 1979 bei der Laienspielschar dabei ist, überzeugt.

Denn die Stimmung in Schuld ist gut eineinhalb Jahre nach der Flut eben alles andere als nur hoffnungsfroh. „Eher angespannt, gereizt“, hat Olaf Justen beobachtet. Die Einen sind eben schon mitten drin im Wiederaufbau, die Anderen warten noch auf die erste Tranche der bewilligten Gelder aus Mainz. Eine Ungleichzeitigkeit, die noch Jahre dauern wird. „Aktuell sind wir rund ein halbes Jahr im Verzug“, schätzt Bürgermeister Helmut Lussi. Wie lange es noch dauert, bis das „neue Schuld“ fertig ist? Er weiß es nicht.

Die „Info-Points“, die es wie im Pfarrheim von Schuld entlang der ganzen rheinland-pfälzischen Ahr gibt, sollen noch bis zum 30.6.2026 bestehen bleiben. Solange würden sie also wohl auch noch gebraucht, glaubt Manuela König. Schließlich „betreuen wir die Betroffenen bis der Verwendungsnachweis der bewilligten Gelder vom Gutachter abgestempelt ist.“ Bis dahin werden sie und Vanessa Kläsgen noch viel Trost spenden müssen. Dass das wirkt, spürt Manuela König, wenn die Menschen wieder ihr Büro verlassen: „Ich sehe es in ihren Augen!“

In Schuld starten sie zusätzlich eine andere Art von Trost und seelischem Wideraufbau. Nach 15-jähriger Pause werden die 1983 begonnenen Passionsspiele wiederaufgeführt. Es wird in diesem Jahr nicht der einzige Versuch sein, die Schulder zusammenzubringen. Der Junggesellenverein plant wieder eine Feier zum 1. Mai, im Sommer spielt die Theatergruppe auf der Freilichtbühne oben am Wald „Jim Knopf und die wilde 13“ von Michael Ende. Und Schuld wird in diesem Jahr wieder Etappenort der „Tour de Ahrtal“.

Denn das geprüfte Schuld soll Heimat bleiben können. Als Olaf Justen nach der Flutnacht, die ihn als Helfer ganz und gar gefordert hatte, erstmals darüber nachdachte, dass ihm nichts geblieben war, war ihm das klar: „Ich bleibe hier und ich baue wieder auf!“ (sli)

Titelbild: Unterschiedliche Geschwindigkeiten beim Wiederaufbau: Schuld gut eineinhalb Jahre nach der Flut 2021.