Eifelschreiber goes Juist: In der letzten Juniwoche ein Sommertraum auf Töwerland.
Diese 1643 Hektar große, auf 17 Kilometer lang gestreckte, an der schmalsten Stelle nur 500 Meter breite „Sandbank“, hat ihre Fans wie alle sieben ostfriesischen Inseln. Die bekannteste hat man auf Juist ewig vor Augen, wenn man nach Osten blickt: Die nur vom Seegat getrennte Nachbarinsel Norderney – „Königin der Nordsee“ und elegantes Staatsbad mit langer Tradition.
Dabei soll der Gedanke des heil- wie erholsamen Inselurlaubs einst auf Juist, der unscheinbaren Nachbarin, entstanden sein. Inselpfarrer Gerhard Otto Christoph Janus, der von 1771-1789 auf Juist wirkte, schrieb demnach schon 1783 an seinen König Friedrich II: „Es ist bekannt, daß die See Luft immer mit den feinsten Theilchen angefüllet ist, welche den menschlichen Cörper so wohl durchs Einhauchen als auch von außen durchdringen und durch die revolvierende Kraft das Unreine aus demselben wegschaffen können“.
1783 – da erlebte Juist gerade einen wirtschaftlichen „Miniboom“: Es habe bis zu 32 Schiffseigener – ein Zehntel der damaligen Bevölkerung – gegeben, heißt es in einem Inselführer. Doch von Tourismus war noch lange nicht die Rede. Erst 1840 wurde Juist Seebad. 1887 waren erstmals 1000 Badegäste registriert. Seit 1975 ist die Insel staatlich anerkanntes Nordseeheilbad.
1898 jedenfalls wurde auf einem Dünenzug das „Kurhaus Juist“ eröffnet. Heute neben dem „Doornkaatbuddel“ genannten Wasserturm auf der mit 22 Metern höchsten Düne der Insel Juists weithin sichtbares Wahrzeichen. Das war ein Signal: Die hochadelige und großbürgerliche Welt badeurlaubte nun auch auf Juist. Doch wie wenig das hochherrschaftliche Gebäude – heute mit einer „Reichstag-Glaskuppel“ – zum Leben der Inselbevölkerung gepasst haben muss, zeigen die wenigen erhaltenen traditionellen Bauernhäuser von um 1800 rund um den Janusplatz. Auch die Gästepensionen, die um 1900 gebaut wurden, sind auf Juist weniger repräsentativ als etwa auf Norderney.

1899 folgte das „Neue Warmbadehaus“, das sein Meerwasser über eine Pumpe („Pulsometer“) direkt aus der Nordsee erhielt. 1970, nach Eröffnung des Meerwasser-Hallen-Wellenbades“ (heute Teil von „Töwer Vital“) wurde es geschlossen, steht heute unter Denkmalschutz und dient unter anderem als Standesamt. Auf dem Sockel einer der Skulpturen des Juister „Kunstweges“ vor dem Gebäude haben sich Paare aus den vergangenen Jahren mit einer „Liebes-Plakette“ verewigt.
Das ist Juist heute, eine beliebte Ferieninsel mit rund 1700 Einwohnern. Die Inselgeschichte allerdings deutet nicht darauf hin, dass der Tourismus in Juist eine Zwangsläufigkeit gehabt hat. Eher ist es fast ein Wunder, dass das Eiland nicht aufgegeben wurde. Denn die Historie der langgestreckten Sandbank – wie alle ostfriesischen Inseln seit etwa 2000 Jahren besiedelt – ist von Naturkatastrophen geprägt und ärmlichem Lebensstandard. Oft zwang die Nordsee nach schweren Sturmfluten den Wohnort aufzugeben und andernorts einen Neuanfang zu machen.

1651 teilte die Petriflut die Insel in zwei Teile. Die Öffnung erhielt den Namen „Hammer“, was so viel wie „niedriges, nasses Land“ bedeutet. Zu diesem Zeitpunkt war Juist im Nordosten besiedelt, das Dorf musste aufgegeben werden. 1715 und vor allem Weihnachten 1717 folgten weitere Durchbrüche am „Hammer“, nun musste auch das zweite Dorf in der Nähe der heutigen Domäne Bill evakuiert werden. Um 1800 waren beide Inselteile von einem zwei Kilometer breiten Kanal getrennt. Noch heute kann man in der Bill bei Niedrigwasser Reste ehemaliger Landflächen erkennen. Die Juister wanderten weiter Richtung Osten und gründeten Loogdorf.

Erst noch weiter Richtung Osten, im heutigen Hauptort, dem Ostdorf, fand dieser Siedlungszug über die Insel schließlich sein Ende. Hier wurde 1779, unter Leitung von Pfarrer Janus, die neue Kirche gebaut: Es war die fünfte. Die heutige evangelisch-lutherische Kirche an der Wilhelmstraße von 1964 wurde auf ihren Fundamenten errichtet. Es ist die sechste. 1911 entstand zudem die römisch-katholische Kirche an der Dünenstraße.
Heute sind rund elf Prozent der Gesamtfläche der Insel bewohnt, Siedlungswachstum ist nur begrenzt möglich, denn die strengen Schutzauflagen des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer – UNESCO-Weltkulturerbe – verhindern von vornherein Ziel- und Nutzungskonflikte.

Das Problem des Inseldurchbruchs am „Hammer“ blieb lange ungelöst, und jede Sturmflut machte das den Insulanern nur noch bewusster. Erst 1927 wurde durch Aufschüttung eines zehn Meter hohen und mittlerweile 80 Meter breiten Dünendamms zur Seeseite eine künstliche Bucht geschaffen. 1932 schloss dann ein Dünendeich zur Wattseite die Lücke endgültig. Für die umfangreichen Arbeiten wurde sogar eine einspurige Gleisstrecke gelegt. Nicht die erste.

Denn bis 1984 war der Schienenverkehr eine wichtige Infrastruktureinrichtung. Bis dahin 1984 wurden die Inselgäste auf einem Anleger im Watt ausgebootet, stiegen in die Waggons der Inselbahn und fuhren zum Bahnhof, in dem jetzt unter anderem das Nationalparkhaus untergebracht ist. Vor 36 Jahren wurde der neue Hafen mit Anleger gebaut, 2007-2008 kam die östliche Mole (Seebrücke) mit Sportboot-Liegeplätzen dazu.
Das ist heute Geschichte, und Transporte aller Art werden mit Pferdefuhrwerken oder Planwagen durchgeführt – der Müll, das Gepäck der bis zu 90.0000 Urlaubsgäste pro Jahr, Baumaterial, die Versorgung der Einkaufsmärkte. Juist ist, vielleicht seit der Gründung eines Gestüts auf der Insel durch Graf Enno III. von Ostfriesland 1599, die „Pferdeinsel“. Ansonsten kommt der Postbote mit dem Elektroauto, und alle anderen – angeblich auch die Inselpolizei – mit dem Fahrrad. Nur der Notarzt und die Feuerwehr fahren Auto, ansonsten ist Juist autofrei..
Juist ist keine Insel für den, der „was erleben will“, wenn damit Kneipe, Disko & mehr gemeint sind. Da muss man dann doch eine Insel weiter Richtung Osten. Auf Juist gibt es stattdessen die Weite des makellos weißen Sands, man findet Herzmuscheln, Sandklaffmuscheln oder Plattmuscheln, Felsenaustern und Taschenkrebse; am Ostende nach Stürmen am Strand ab und zu sogar aus tieferen Gewässern aufgewirbelten Bernstein.
Natur pur eben, dazu zählt auch die bei Nebel gespenstische Schönheit in dem vom Biologen Dr. Otto Leege in den 1920er Jahren östlich der Bill angepflanzten „Wäldchen“ mit besonders wetterharten Schwarzerlen und Karpatenbirken. Wildblumen und dichte Büsche und Gehölze beherrschen den schmalen, fast zugewachsenen Pfad um die Südseite des Hammersees, und Naturfreunde finden fast schon eine Parklandschaft an den ebenfalls von Leege angelegten „Goldfischteichen“ oberhalb des Ostdorfes.

Die Teiche und der See auf Juist – das ist tatsächlich etwas Besonderes: Weil der Hammersee von beiden Seiten eingedeicht wurde, stieg über die Jahrzehnte der Süßwassergehalt, das schwerere Salzwasser sank ab. So hat Juist heute den einzigen Süßwassersee einer ostfriesischen Insel. Die ganze Insel schwimmt zudem, wie Norderney, auf einer Süßwasserlinse. Deshalb können hier auch Goldfische überleben. Schließlich: Das Wasserwerk Juist gewinnt aus 26 Brunnen das Trinkwasser für die Insel.
Vieles scheint im „Töwerland“, dem Zauberland, wie Juist im Dialekt seit jeher genannt wird – anders zu sein: Entlang des 17 Kilometer langen Strands an der Nordseite fehlt zum Beispiel jede Verbauung. Keine Buhnen zum Inselschutz. Ist das ein Luxus, ist anderes eher ein Problem: Juist ist von allen ostfriesischen Inseln am stärksten von der Tide abhängig. Nur einmal täglich kommt die Fähre, was aber auch die Zahl der Tagesgäste überschaubar hält. Die Tide beschränkt das Wachstum.
Auch auf Juist kann man erleben, wie eine Insel wandert: Von Westen nach Osten durch die Winddrift. Sand wird im Westen abgebaut und im Osten angelagert. Zuletzt bei der großen Sturmflut an der deutschen Nordseeküste 1962 war von Sandverlusten die bei Ebbe bis zu einen Kilometer breite Sandbank Billriff im Westen betroffen. Am Kalfamer (aus dem ostfriesischen für „Kälberwiese“) im Osten gibt es dafür neue Dünen. Die Primärdünenfelder dahinter sind vom 1. April bis Ende Juli allerdings bis auf einen kleinen Pfad am Rand als Vogelrast- und Nistgebiet gesperrt. Am Spülsaum entlang ist ein Weg möglich – bei Niedrigwasser wohlgemerkt. Ähnlich an der Westspitze der Bill ist man dann weit genug von den Schutzgebieten entfernt.
Ob am Kalfamer, an der Bill, im verwunschenen „Wäldchen“ – überall spürt man die herbe Ursprünglichkeit des Töwerlands. Silber- und Graumöwen warten auf Sandbänken auf die Flut, Austernfischer stolzieren am Spülsaum, eine Kornweihe ist auf der Jagd über den Büschen am Hammersee, Fasane schreien hektisch in den Salzwiesen, Hasen flitzen über die Heller. Und am Strand begleiten Seehunde und Kegelrobben die wenigen Strandwanderer. In Ufernähe schauen sie neugierig auf die Zweibeiner, die Ende Juni eine besondere Sommerwoche auf Juist erleben: Über Tage kein rauer Wind, kein schnell wechselndes Wolkentheater, keine starke Dünung. Stattdessen gleißende Sonne, blauer Himmel und mild-kühles Nordseewasser.

Das sei noch eine Erinnerung an die vergangenen Wochen des Lockdowns, heißt es auf der Insel. Damals seien die Rehe am Strand entlang spaziert, wo sich die Seehunde sonnten. Die Natur nehme sich schnell wieder den Platz, wenn man sie in Ruhe lasse. Töwerland.
Am letzten Juniwochenende begannen in Nordrhein-Westfalen die Sommerferien und die Insel Juist erlebte den ersten Touristenansturm des Jahres. Das Wetter änderte sich. Es wurde stürmischer, unruhiger. Die Seehunde und Robben waren verschwunden.

Titelbild: Juist, Haakdüne an der Bill.
INFO:
www.juist.de
Quellen: Küstenmuseum Loog, Kurzführer, hsg. Kurverwaltung der Inselgemeinde Juist
Juist, Übersichtsplan, Nationalpark-Haus Juist, 2020
Roland Hanewald: Juist, Reise Know-How Verlag Peter Rump, Bielefeld, 3. Aufl., 2006