Nach mehr als 800 Jahren haben die Zisterzienser im Oktober 2017 das Kloster Himmerod bei Manderscheid für immer verlassen. Aber Einer nicht. Pater Stephan Reimund Senge blieb. Er ist der letzte Mönch in Himmerod.
Das Tal der Salm ist still. Drei Kilometer vom Dorf Großlittgen entfernt öffnet es sich zu einer weiten Wiese. Die Obstbäume blühen in der Sonne, es wirkt friedlich, freundlich, ruhig, würdevoll. Das Gefühl vermittelt die mächtige barocke Hallenkirche des Klosters Himmerod mit ihren hohen gotischen Spitzbogenfenstern und den sandsteinfarben abgesetzten Pilastern auf der weiß gekälkten Fassade. Das Gefühl besagt: Jetzt betritt man eine andere Welt.
Kloster Himmerod, an dieser Stelle 1135 von Bernhard von Clairvaux gegründet, ist für die Eifel einer der über Jahrhunderte bedeutenden zentralen geistlichen Orte, vergleichbar der Abtei Maria Laach oder dem Kloster Steinfeld. Doch in Himmerod gibt es seit Oktober 2017 keine Mönche mehr. Über mehr als 800 Jahre waren hier – im Mittelalter bis zu 300 – Patres und Brüder, doch am Ende waren es nur noch Sechs. Zu wenig um ein ganzes Kloster bewirtschaften zu können, zu mittellos um die nötigen Investitionen an den Gebäuden finanzieren zu können. Selbst ein Trägerverein konnte nicht mehr helfen.
So zogen die Mönche von Himmerod nach Beschluss ihres Kongregationskapitels aus der Eifel weg und in verschiedene andere Klöster. Doch Einer blieb.

Die Abtei Himmerod bei Großlittgen im Salmtal.
„Stephanklause“ steht an einer schweren Tür des Pfortengebäudes von Kloster Himmerod, das heute Teil der „Klosterherberge“ ist. Unmittelbar daneben ist der Aufgang zur Klostergastronomie, die wie der Klosterladen oder das Exerzitienhaus weiter betrieben wird. In der Klause wohnt Pater Stephan Reimund Senge, hier hat er sein kleines Zimmer ohne Bad und WC, das er gegenüber auf dem Flur findet, hier hat er eine Mitarbeiterin und einen Mitarbeiter, die ihm „bei allem Organisatorischen“ helfen. Warum das nötig ist? Das wird sich zeigen.
Pater Stephan begrüßt mit offenem Blick und festem Händedruck. „Bruder reicht, lassen Sie das Pater für Vater weg. Jesus sagt: Ihr seid alle Brüder aber nicht alle Väter. Es gibt nur einen Vater.“
Bruder Stephan also ist 88 Jahre alt, weißer Zisterzienserhabit mit schwarzer Kukulle, dem Überwurf, wenn er außerhalb seiner Wohnräume ist. Schlohweiße Haare, Drei-Tage-Bart. Er ist barfuß in den geflochtenen Sandalen. Das trage er so auch im Winter, es mache ihm nichts aus, meint Bruder Stephan, er sei „kälte- und wasserunempfindlich“. Das nennt man vermutlich eine „Pferdenatur“.
„Last man standing“ wurde er schon genannt, aber das hier ist kein Vorposten im Wilden Westen.
Er ist jetzt seit sechs Jahren der letzte Mönch im Kloster Himmerod. Last man standing hat das schon ein Journalist genannt, weil es sich irgendwie schnittig anhört – und ein bisschen ratlos. Doch mit derlei Pathos hat Bruder Stephan vermutlich nichts am Hut.

Er öffnet die Tür zu seinem Büro. Ein fensterloser kleiner Raum – und das Chaos: Postits überall an der Wand zwischen Zetteln und Bildern; Papierhaufen, Bücherstapel, Regale voller Bücher, Dokumente, Mappen. Und mitten drin auf dem Schreibtisch ein aufgeklappter Laptop. „Ein Handy habe ich aber nicht, ich leihe mir eins, wenn es nötig ist“, schmunzelt Bruder Stephan.
Ein Chaos, das auch eine Schreibwerkstatt ist. Bruder Stephan ist auch ein Autor, der zu Lesereisen in ganz Deutschland eingeladen wird: 46 Bücher habe er bisher geschrieben, meint er. Das jüngst erschienene ist eine Art Corona-Tagebuch, andere Titel sind Parabeln, immer wieder Tagebücher, Lyriksammlungen, Besinnungs- und Meditationstexte.
Veröffentlicht hat er sie im Himmeroder Buchverlag – oder auch über einen Verlag in Leipzig, damals, zu DDR-Zeiten, als er einer der ganz wenigen westdeutschen Autoren war, die in Ostdeutschland erscheinen durften. Monatlich gibt er seit 49 Jahren zudem den „Himmeroder Rundbrief“ heraus. In seinem Verlagsbüro, dass dieses Chaos auch ist, schnappt er sich einen dicken Aktenordner: „Das ist das Manuskript für das 47. Buch.“ Bruder Stephan, der Vielschreiber, ist Mitglied der Schriftstellervereinigung „Die Kogge“, die sich einmal jährlich zum Autorentreffen im Kloster Himmerod trifft.
„Gehen wir nach nebenan, da haben wir Ruhe“, schlägt er vor und öffnet die Tür zu einem kleinen Gruppenraum. In einer Ecke ein runder Tisch, an der Wand ein Taizé-Kreuz, vor dem Besprechungstisch auf den Stühlen an kleinen Tischchen Kissen mit bestickten Elefanten, in der Ecke ein Klavier. Ein Kommunikations- und ein Rückzugsraum zugleich.
„Ich bin ungehorsam, das meint jedenfalls meine Bischof“
Warum er damals geblieben ist? „Ja, ich bin ungehorsam, das meint jedenfalls mein Bischof in Trier“. Man glaubt ihn sanft lächelnd zu sehen. Weil er sich im Oktober 2017 weigerte zu gehen, weil er lieber weiter das machen wollte, wofür ihn so viele Menschen nicht nur in der Eifel kennen, schätzen und aufsuchen: „Da sein für die Menschen“, so beschreibt er es. Das ist er hier seit 64 Jahren. „Es gibt ein Kirchenrecht, aber es gibt auch ein Menschenrecht. Das steht darüber. Und ich denke an die Vielen, denen ich helfen kann, wenn ich hier bin. Es gibt viele Menschen die sagen, wenn Du nicht mehr da bist, dann kommen wir nicht mehr nach Himmerod“.
Er blieb also nicht deshalb, weil er die meditative Abgeschiedenheit des Klosters im Salmtal sucht. Die findet er schon in der großen Hallenkirche mit der spektakulären Klais-Orgel und ihren 60 Registern, ansonsten aber der strahlenden Schlichtheit, wie es Zisterzienser bevorzugen. Keine Barockisierung, kein Schmuck. Nur Weite und Stille.
„Ich bin einfach hier. Ich bin immer ansprechbar. Für Menschen, die mit mir reden wollen, die beten wollen, die die Gemeinschaft suchen, denen der Geist von Himmerod etwas bedeutet“. Es hat sich, so scheint es, so ergeben. Sein Glaube hat ihn in dieses Leben gestellt und er erfüllt diese Pflicht, die sein Herzensanliegen ist. Jetzt ist er Teil einer kleinen Hausgemeinschaft. Er ist umgeben von Menschen, die sich gegenseitig helfen, die ihm auch Organisatorisches abnehmen.

Das Büro eines Vielbeschäftigten.
Und er kann ja auch schon deshalb nicht gehen, weil in seinem Büro auch die Zentrale seines Entwicklungshilfeprojektes ist. 1998 gründete er die Initiative Sudan Pater Stephan e.V. Schwester Emmanuelle, die „Mutter der Müllmenschen von Kairo“, habe ihn bei ihrem letzten Besuch in Himmerod von der Notwendigkeit überzeugt: „Da wusste ich: Das passt zu Dir. Das willst Du machen!“
Ein Dutzend Schulen unterstützt die Initiative, die das „Deutsche Spendensiegel“ hat, mittlerweile in dem vom Bürgerkrieg gequälten Land, sie setzt sich für den Bau von Frauenhäusern ein, gegen die Zwangsverheiratung junger Frauen, gegen Kinderarmut, für die Ausbildung von Lehrern, die die Kinder dringend brauchen. Auch mit 88 Jahren fliegt Bruder Stephan einmal pro Jahr für drei Wochen in den Sudan und besucht die Dörfer und Schulen, in denen seine Initiative Gutes tut.
Auch deshalb lebt er in der „Stephanklause“ nicht das Leben eines Eremiten. Im Gegenteil: „Ich habe nie die Rückzugszeit für mich von der Zeit, in der ich für die Menschen da bin, die mit mir reden wollen, getrennt“. Er ist lieber den Menschen zugewandt.
Das Kloster selbst ist eigentlich nicht Bruder Stephans Welt. Die besteht in Himmerod aus seiner Klausur, dem Büro und seinem Lieblingsplatz: der kleinen Pfortenkapelle.
Die Klosteranlage, die er nach 64 Jahren wie kein Zweiter kennt, ist für ihn vermutlich eher eine Art spektakuläres, schmückendes Beiwerk, auch der Startplatz und Ort für die verschiedensten Aktionen, Begegnungen, Projekte mit Menschen allen Alters. Mit Schulkassen, Gruppen, Pilgern. Er empfängt sie alle, kommt mit ihnen ins Gespräch, musiziert, singt und meditiert mit ihnen zum Beispiel jeden Abend nach der Complet, einer der vier festen Gebetszeiten die Bruder Stephan allen Interessierten zur Teilnahme anbietet – neben der täglichen hl. Messe, die er zusammen mit einem anderen Geistlichen leitet.

In der Pfortenkapelle: Bruder Stephan im Schneidersitz vor dem Altar.
Und wo hat so einer nach 64 Jahren seinen Lieblingsplatz? Es ist nicht die Klosterkirche, es ist nicht der schöne Wald um Himmerod herum, nicht die glucksende, leise rauschende Salm, die hier Teil des Eifelsteigs ist, nicht einmal der blühende Obstgarten, obwohl der Frühling auch Bruder Stephans Herz höherschlagen lässt.
„Kommen Sie mit in die Pfortenkapelle. Hier fühlen sich die Menschen wohl.“ Er öffnet eine nur angelehnte Tür. Die kleine Kapelle wirkt schlicht, einladend, warm. Vor dem Altar liegt ein runder geflochtener Teppich auf dem Boden. Bruder Stephan nimmt Platz im Schneidersitz.
Ja, das finde er wesentlich besser als am Altar „hoch oben“ vor den Gläubigen zu stehen. Manchmal geht es nicht anders, doch lieber ist er mitten unter ihnen, auf Augenhöhe. Wie er da auf dem Boden hockt, hat er wenig von einem Autorität ausstrahlenden Gottesmann, der zur Kanzel eilt und eine flammende Predigt hält. Das wäre vermutlich auch nicht Bruder Stephans Missionsansatz. Er ist eher der Streetworker des Glaubens für Suchende.
Ein Ausflug mit der Jugendgruppe führte ihn Mitte der 1950er Jahre zum ersten Mal nach Himmerod.
Er war ja selber auf der Suche. 1955 war das, und der 21-jährige gebürtige Hannoveraner mit einer Jugendgruppe auf großer Fahrt in die Eifel. Die Gruppe besuchte auch Himmerod. Die Klosterkirche war damals noch eine Ruine. Sie wurde erst 1962 neu fertig, lediglich die 38 Meter hohe Westfassade, erbaut von Barockbaumeister Christian Kretschmar, stand noch.
Was dann passierte, sollte sein Leben verändern. Das Leben eines jungen Mannes, der, wie er zugibt, „kein besonders glänzender Schüler war. Ich bin vier Mal sitzen geblieben und war von der Schule geflogen“. Es wird eine Krisensituation gewesen sein, eine offene Ausgangslage, geeignet, Lebensweichen neu zu stellen. Ein späterer Mitbruder habe ihm ein Zimmer gezeigt, so Bruder Stephan: „Es war das Zimmer, in dem ich dann 60 Jahre leben sollte.“ Es seien noch Zimmer frei, habe ihm der Bruder bedeutet.
Wenige Wochen später sei er nach Himmerod zurückgekehrt. Und er habe den damaligen Abt Vitus Recke gefragt: „Was muss ich tun, wenn ich hier leben will?“ Die Antwort bedeutete für Bruder Stephan erst einmal das Abitur zu machen, dass er schließlich nach zwei Jahren in einem Zisterzienserinternat in Tirol in Wien – die Matura – ablegte. Da war er 24. Es folgten eine erste Probezeit in Himmerod von sechs Wochen, dann das einjährige Noviziat, 1964 nach Theologiestudium unter anderem in Beuren die Priesterweihe. Seit 1958 lebt er im Kloster Himmerod.

Die Gärtnerei, ein Eigenbetrieb des Klosters, soll erhalten bleiben.
Er habe die Entscheidung für das mönchische Leben, das erst auf Skepsis bei seinem Vater stieß, die Mutter sei von Anfang am nicht dagegen gewesen, „nicht eine Sekunde bereut“, so Bruder Stephan. Er habe aber auch „nicht alles immer hinterfragt“, das sei einfach „nicht meine Mentalität“.
Nach 64 Jahren hat sich das Mönchsein verändert: Mönchisches Leben gibt es immer seltener. Überall werden Klöster aufgelöst, sind die Gemeinschaften klein und überaltert. Ein Auslaufmodell? Bruder Stephan ist sich da nicht so sicher: „Mönchisches Leben gibt es in verschiedensten Varianten“.
Wie die Welt um ihn herum den beiden christlichen Konfessionen gegenüber eingestellt ist? Der christliche Glaube hat für Viele seine Verbindlichkeit verloren. Das weiß er auch aus seiner ökumenischen Arbeit. Teilweise seit 40 Jahren besucht er regelmäßig evangelische Kirchengemeinden in Hamburg, Niedersachsen und Berlin. Natürlich spielen auch die Missbrauchsfälle und der Umgang der Kirchen damit eine herausragende Rolle. Das merkt Bruder Stephan auch bei den Zahlen für Jugendfreizeiten, die er anbietet. Sie gehen zurück.

Himmerod im Frühling.
Andererseits haben gerade „junge Leute“ vor einiger Zeit die „Himmeroder Weltzeit“ ins Leben gerufen. Täglich um 21 Uhr, nach der Complet um 19.30 Uhr, treffen sich Menschen überall zum Gebet, oder sie telefonieren oder schreiben sich eine E-Mail. Diese Weltzeit ist wie ein ins Wasser geworfener Stein, der Kommunikationskreise zieht.
Da wären aber auch die seit 40 Jahren angebotenen drei Wochenwanderungen im Sommer: Eine Woche Kajak-Wandern (2022 in Mecklenburg-Vorpommern), eine Woche in einer deutschen Landschaft (2022 Weserbergland), eine Woche ab Himmerod.
Oder die „Himmeroder Nacht“, einmal im Monat ab 19 Uhr mit Gebeten, Gesängen, Gesprächsrunden, Meditationen – ein Angebot, das wie viele andere Taizé-Atmosphäre in die Eifel zaubert. Das sich auf das Wesentliche konzentrieren, das In sich Hineinhorchen, das ist für Bruder Stephan, den viel Beschäftigten, den Menschen Zugewandten, wichtig.
Langsam geht er auf das große einstige Konventgebäude von Kloster Himmerod zu. Die Gebäude des Klosters sollten bis 2024 für 15 Millionen Euro saniert und umgebaut zum neuen Jugendhaus des Bistums Trier werden. Himmerod, der Ort, den die Mönche verlassen haben, hätte eine neue Zukunft bekommen. „Es ist eine gute Idee!“ Davon war Bruder Stephan überzeugt. Jetzt ha das Bistum die Pläne abgeblasen, die Kosten seien zwischenzeitlich gestiegen, zu hoch. Bruder Stephan wird es zur Kenntnis genommen haben. Zwischenzeitlich wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen. Wenn man so will, auch für seine Standfestigkeit zu bleiben.
INFO
www.abteihimmerod.de
www.initiative–paterstephan.de