Samuels Lauf nach Olympia

Der 28-jährige Samuel Fitwi Sibhatu floh 2014 aus der Diktatur Eritreas über Äthiopien, das Mittelmeer, Italien nach Deutschland. In der Vulkaneifel wurde sein Lauftalent entdeckt. Heute ist Fitwi, der in Gerolstein lebt, einer der besten deutschen Marathonläufer aller Zeiten. Fitwi startet für sein neues Heimatland bei den Olympischen Spielen in Paris.

Dieses Leben ist wie ein Film, im Zeitraffer gedreht, unvorstellbar, voller Unwahrscheinlichkeiten.  Doch sein Hauptdarsteller ist kein Star. Schüchtern, zurückhaltend, konzentriert wirkt der junge Mann, der da gerade ein paar Runden auf der Laufbahn der Sportanlage des VfL Hillesheim dreht. Er trägt das Stirnband eines seiner Sponsoren, das ist das Einzige, das darauf hindeutet, dass der schlanke Läufer nicht irgendein Freizeitsportler ist.

„Sehen Sie in Samuel bitte den Profisportler, der er seit fast vier Jahren ist, und nicht nur die Lebensgeschichte des Flüchtlings aus Eritrea“, bittet Jörg Ulmann, „väterlicher Freund und ab und zu Samuels Manager“, fast schon inständig. Das ist gut gemeint. Aber man kann den Top-Leichtathleten ja nicht von seiner Vita trennen: Und da ist eben der heute 28-jährige Samuel Fitwi Sibhatu aus dem Bergdorf in Eritera, der sich im Herbst 2014 mit drei Gleichaltrigen in einer Nacht auf die Flucht aus der Diktatur seines Heimatlandes macht. Die Eltern und vier kleinere Geschwister lässt er zurück. Das Ziel ist Europa und eine Zukunft in Freiheit.

„Die Flucht war hart, manchmal denke ich noch daran zurück“

100 Kilometer gehen sie zu Fuß bis nach Äthiopien. Dort wartet ein Schleuser auf die Gruppe. Er bringt das Quartett durch die Wüste bis an die lybische Küste. Überfahrt mit vielen weiteren Flüchtlingen in einem wackeligen Boot nach Italien. Ankunft Wochen später in einem Auffanglager in Trier. „Ja, die Flucht war hart und schwer, manchmal denke ich noch daran zurück“, gesteht Samuel Fitwi Sibhatu. Damals lebte er schließlich zunächst in einer Flüchtlingsunterkunft in einem Dorf bei Gerolstein, in einem Schulinternat in Neuerburg in der Südeifel absolvierte er den Unterricht der 6. bis 8. Klasse, lernte Deutsch. Erst am Wochenende, ab 2017 auch ganz nahm ihn eine Familie in Stadtkyll an der oberen Kyll auf. Fitwi begann eine Malerlehre.

Am Ende des Schuljahres 2016 wurde der „Cooper-Test“, ein international anerkannte Ausdauertest, benannt nach des US-Sportmediziner Kenneth H. Cooper, veranstaltet: Wie weit können Jugendliche in zwölf Minuten laufen? Drei Kilometer gilt als sehr gut. Samuel schaffte vier.

Testläufe im Bolsdorfer Tälchen. Samuels Talent war unübersehbar.

Es war die zweite Geburtsstunde des Samuel Fiwi Sibhatu, wenn man so will. Er ist der Wunderläufer aus der Eifel, der von seinem Talent nichts wusste. Schnell wurde eine kleine Laufgruppe bei der LG Vulkaneifel um den Physiotherapeuten und LG-Starter Yannick Duppich für Fitwi gegründet. Duppich wurde der Trainer des Laufwunders aus Eritrea.

Sofort sei klar gewesen, dass Fitwi ein Naturtalent ist. Doch wie weit würde dieses Talent reichen? Weit: Denn wo immer Samuel Fitwi an den Start ging – er gewann oder war im Ziel einer der Ersten. Unter anderem wurde er 2021 Deutscher Rekordhalter über 5 Kilometer Straßenlauf, 2020, 2021, 2022 Deutscher Meister im Crosslauf, belegte 2019 den 5. Platz bei den Crosslauf-Europameisterschaften, setzte im Halbmarathon 2021 mit 61:54 Minuten ein erstes Zeichen auf den Extremdistanzen.  

„Ich habe den Menschen in der Eifel viel zu verdanken“, gesteht Samuel Fitwi.

Die Malerlehre brach Samuel Fitwi Sibhatu 2022 ab und wurde Profisportler. Trainingspläne, Höhenlager in Äthiopien, Marketing und Medienarbeit, Sponsorensuche bestimmen seitdem abseits ausgewählter Rennläufe sein Leben. Er wechselte den Verein und ging zum Silvesterlauf Trier. Yannick Duppich, der das Lauftalent entdeckt und gefördert hat, aber ist bis heute sein Trainer. Bei Familie Linden, der er viel verdankt, und die ihm den Start in der Eifel so erleichtert hat, ist Samuel ausgezogen. Er lebt heute in Gerolstein. Seit dem vergangenen Herbst mit einer Art Tunnelblick, das große Ziel fixiert: Den Start am 10. August bei den Olympischen Spielen in Paris. Dann steht an der Seine der Marathon auf dem Programm.

Samuel hat die Etappen bis dorthin genau vorbereitet und die wichtigsten Teilziele schon erreicht: Beim Berlin Marathon 2023 lief er mit 2:08:28 Stunden persönliche Bestzeit, die ihn auf den neunten Platz in der ewigen Bestenliste der deutschen Marathonis katapultierte. Ebenfalls in Berlin lief er am 7. April 2024 eine neue Bestzeit von 1:01:33 Stunden über die 21,1 Kilometer, wurde damit bester Europäer und qualifizierte sich für die Europameisterschaften in Rom. Dort holte er am 9. Juni mit der Mannschaft Bronze auf der Halbmarathondistanz.

Samuel ist Teil des stärksten Marathoni-Teams,
das der DLV in den letzten Jahrzehnten hatte.

Vorher war er erneut seit Monaten im Höhenlager auf 2500 Metern in Äthiopien, wo er Teil einer Trainingsgruppe aus Weltklasse-Marathonis und Langstreckenläufern ist. Nach Deutschland kommt er nur noch zwischendurch – die Sponsoren etwa wollen besucht werden. So bei seinem diesjährigen „Spendenlauf“ Mitte Juni. Die Idee hatte Fitwi selbst. Er habe nicht vergessen, wie viel ihm die Menschen in der Eifel gegeben haben als er damals ankam, eigentlich gestrandet, mit wenig mehr als den Kleidern, die er am Leibe trug. „Ich möchte der Eifel einfach etwas zurückgeben“, so sein Motiv für den Benefizlauf. So dankt er auch den Behörden im Vulkaneifelkreis, die seinen Einbürgerungsantrag in knappen sechs Monaten bearbeiteten. Das war die Voraussetzung für sein Profisportlerleben, weltweite Starts, auch für Deutschland bei den Olympischen Spielen in Paris.

Die letzte Hürde, die Samuel Fitwi Sibhatu auf dem Weg dahin nehmen musste, nahm er am 7. Januar 2024. In 2:06:27 Stunden unterbot er beim Dubai Marathon die geforderte Olympianorm. Nun ist er einer von Dreien, die das seit Jahrzehnten stärkste deutsche Teilnehmerfeld bei Olympischen Spielen im Marathon bilden. Zusammen mit Richard Ringer von der LG Rehlingen und Amanal Petras, Deutscher Marathon-Rekordhalter (SSC Berlin), wird Samuel in die Stadt fahren, die er wie zuvor Dubai, wie zuvor Berlin, noch nie gesehen hat: Paris. Auch Karl Fleschen, gebürtiger Dauner und letzter Vulkaneifeler bei Olympia, der 1976 in Montreal über 1500 Meter an den Start ging, drückt die Daumen.

Aus dem Höhenlager in Äthiopien geht es direkt nach Paris.

Seit dem 15. Juni ist Samuel Fitwi erneut im Höhenlager in Äthiopien bei seiner Trainingsgruppe auf Zeit. Von hier aus wird er am 7. August nach Paris zum DLV-Team fliegen und am 10. August beim olympischen Marathon starten. „Der Parcours in Paris wird nicht einfach sein. Das Profil der Strecke ist hügelig. Es geht nach Versailles hinauf, immer entlang der touristischen Sehenswürdigkeiten“, so der Marathoni.

Dabei ist Paris im so unwahrscheinlichen Leben des heutigen Profiläufers Samuel Fitwi Sibhatu streng genommen nur ein Zwischenziel. Es könne sein, dass der Start für die optimale Ausreifung seines läuferischen Potentials zu früh komme, mutmaßt Manager Ullmann. So ist die Olympiade 2028 in Los Angeles eigentlich die Perspektive. Jährlich sind bis dahin zwei Marathons und ein Halbmarathon geplant.

„Als Junge bin ich allenfalls vor Hyänen weggelaufen, oder mal den Schulweg über acht Kilometer von Zuhause“, erinnert sich Samuel. Das machten schließlich fast alle Kinder seines Heimatdorfes so. Lange vorbei, eine Art Vorleben, denn in den vergangenen zehn Jahren ist die Eifel für den Mann aus Eritrea zu „meiner neuen Heimat“ geworden. Ob er jemals seine Eltern und die Geschwister wiedersieht? „Zurückzukehren ist viel zu gefährlich. Ich weiß nicht, was dann mit mir passieren würde“, befürchte er. Dieser lange Lauf zu sich selbst geht für Samuel Fitwi Sibhatu eben nur in eine Richtung.

Titelbild: Dass er schnell und vor allem ausdauernd schnell laufen kann, war Samuel Fitwi nie bewusst. Das Talent des 28-Jährigen aus Eritrea, der 2014 als Flüchtling nach Deutschland kam, wurde erst in der Vulkaneifel entdeckt. Heute ist Samuel Fitwi Teil des Marathon-Teams für die Olympischen Spiele im August in Paris. Hier Fitwi auf einer Trainingsrund auf dem Sportplatz in Hillesheim.